Text: Florian Blumer, Mitarbeit: Carla Hoinkes und Mariana Morales
Bilder: Damián Sánchez und Florian Blumer
Nestlé ist die Nummer 1 im globalen Kaffeegeschäft. Auch ethisch will der Schweizer Konzern Branchenführer sein: Ab 2025, so das Versprechen, soll sein Kaffee zu 100% aus «verantwortungsvoller» Produktion stammen. Insbesondere für seinen Pulverkaffee verfolgt Nestlé jedoch eine rücksichtslose Einkaufspolitik. Den Preis dafür zahlen die Bäuerinnen und Bauern, wie sich bei unserer Recherche in Chiapas, Mexiko, zeigte. Kaum angekommen, fanden wir uns mitten in wütenden Protesten gegen Nestlé wieder.
Eduardo Camarena, Kaffeebauer im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, war an einem Tiefpunkt in seinem Leben angelangt. Er musste private Schicksalsschläge verkraften, auch auf seiner Farm lief es nicht. Die Pflanzen wollten nicht wachsen, er hatte mit einer Dürre zu kämpfen. Dann kam der «Nescafé Plan». «Daran teilzunehmen», sagt Camarena strahlend, während fröhliche Musik im Hintergrund läuft, «war die beste Entscheidung meines Lebens.» Die Agronomen von Nestlé hätten ihn gelehrt, sein Geschäft zu managen und die Ernte zu verbessern. Ja, er sei sogar ein besserer Mensch geworden. Und das Wichtigste: «Ich kann nun das Versprechen an meinen verstorbenen Grossvater einlösen und die Familienfarm weiterführen.»
Februar 2024 – neun Jahre nach Produktion des Nestlé-Werbevideos – an der «Ruta del Café», jener Landstrasse, an der sich eine Kaffeefarm an die andere reiht: Rund 200 Bäuerinnen und Bauern aus der ganzen Region haben sich am frühen Morgen getroffen, um die Strasse ausserhalb von Tapachula, dem Hauptort der Kaffeeregion Soconusco, zu blockieren. Ihre Wut richtet sich gegen den Schweizer Lebensmittelkonzern. «Nestlé – Unternehmen ohne Ethik, treibt Chiapas in die Armut» steht auf einem Banner, auf einem anderen: «Wenn Armut eine Tatsache ist, ist demonstrieren ein Recht». Eduardo Camarena, der Bauer aus dem Nescafé-Video, steht vor brennenden Kaffeesäcken mit der Aufschrift «Plan Nescafé» und ruft: «Plan Nescafé – pura mentira!», «Nescafé Plan – blanke Lüge!»
Was ist passiert?
Das grosse Versprechen
Wir treffen Eduardo Camarena an der Ruta del Café, rund eine Stunde ausserhalb von Tapachula, dort, wo ein staubiges Strässchen durchsetzt mit grossen Steinblöcken zu seiner Finca «El Capricho» führt – mit 70 ha Land eine mittelgrosse Kaffeefarm. Wir steigen in Camarenas nicht mehr ganz neuen, aber noch immer geländetauglichen Pick-up. Sogleich beginnt er zu erzählen: «Das grosse Problem in der Region ist, dass wir alle von Arabica auf Robusta umgestellt haben. Vor 14 Jahren sind Agronomen von Nestlé in die Region gekommen. Sie haben erzählt, dass sie uns unterstützen werden, wenn wir Robusta pflanzen, mit Schulungen und ertragreichen Pflanzen. Wir könnten damit unsere Einkünfte verdoppeln.»
Robusta ist die Kaffee-Art, die Nestlé vor allem für die Produktion des Nescafé-Pulverkaffees braucht – es ist ein boomender Markt. Die Robusta-Sorten sind in der Regel widerstandsfähiger und pflegeleichter als Arabica-Sorten. Hingegen gelten sie als qualitativ minderwertiger und erzielen entsprechend geringere Preise.
«Wir sind Sklaven von Nestlé»
Auf halbem Weg zu Camarenas Farm treffen wir auf eine Gruppe von Männern, Kleinbauern mit maximal zwei, drei Hektaren Land – wie die grosse Mehrheit der Kaffeeproduzent*innen im Soconusco und weltweit. Auch sie haben auf Robusta gesetzt. Sie sind sichtlich aufgebracht, einer von ihnen klagt:
«Wir leben vom Kaffee, wir haben Familien zu ernähren! Aber mit dem Preis, den uns Nestlé zahlt, geht es nicht auf. Faktisch sind wir Sklaven von Nestlé.»
Tatsächlich hat sie die Umstellung auf Robusta in eine totale Abhängigkeit vom Lebensmittelriesen gebracht. Sie sind zwar nicht verpflichtet, an Nestlé zu verkaufen. Doch ausser Nestlé gibt es in der Region praktisch keine Käufer für ihren Robusta-Kaffee.
Dabei beschafft Nestlé den Kaffee nicht direkt, sondern über Zwischenhandelsfirmen – in Tapachula sind dies hauptsächlich Casemex, EGOS und Merino –, die den Produzent*innen in der Erntezeit von Oktober bis März die getrockneten Kaffeekirschen abkaufen. Bauern mit grösseren Farmen wie Eduardo Camarena bringen ihre Ernte selbst ins Lager der Firmen, Kleinbäuerinnen und -bauern verkaufen sie meist auf dem Hof an einen Mittelsmann, «Coyote» genannt, der den Transport zu den Zwischenhandelsfirmen organisiert. Dort werden die Bohnen herausgeschält und an Nestlé weiterverkauft. Wie uns ein Vertreter von EGOS bestätigte, geht ihr Kaffee zu 100% an Nestlé.
Nach drei Jahren Nescafé Plan: «Ende der Fiesta»
Nach dem spontanen Stopp bei den Kleinbauern fahren wir weiter zu Eduardo Camarenas Finca «El Capricho». Dort zeigt er uns seine Nescafé-Plan-Unterlagen: Die Bedingungen, die er im Rahmen des Nachhaltigkeitsstandards 4C (siehe schwarze Box unten) erfüllen muss, Schuldokumente, Diplome. Er zeigt uns ein Klassenfoto mit der «ersten Generation der Nescafé-Schule»: Er und seine 54 Mitschülerinnen, die aus allen südlichen Bundesstaaten Mexikos stammen. Über drei Jahre hinweg besuchte er Kurse, erhielt Nestlé-Setzlinge, Nescafé-Agronominnen instruierten ihn auf seiner Farm, sogar ein Nestlé-Manager aus der Schweiz besuchte ihn. «Und dann», sagt er mit sarkastischem Unterton, «war die Fiesta zu Ende».
Er habe viel Geld in den Umbau seines Hofs gesteckt, um die 4C-Auflagen bezüglich Arbeitsbedingungen und Umwelt zu erfüllen. Doch mit den aktuellen Preisen gehe die Rechnung nicht auf: «Auch ohne den teuren Dünger kostet mich die Produktion fast 30 Pesos pro Kilo. Nestlé zahlt aber weniger als das.» Die Nestlé-Kurse liefen unter dem Titel «Gemeinsame Wertschöpfung im Kaffee-Unternehmen». Sie zielten darauf ab, die Bäuerinnen und Bauern zu Unternehmern auszubilden, mit dem Versprechen, dass auch sie profitieren würden. Camarena sagt bitter:
«Dieses Versprechen haben sie gebrochen.»
Elmar Morales teilt Camarenas Erfahrungen. Der Kaffeebauer lebt mit seiner Frau, ihren zwei kleinen Kindern und seinen Eltern auf der Finca der Familie. Auch er glaubte Nestlés Versprechen und wurde 2012 Teil der «zweiten Generation» der Nescafé-Plan-Bauern. Auch bei ihm ist nur noch Wut und Frustration übrig. Besonders schmerzt ihn, dass sein Gesicht und das seiner Mutter auf Nescafé-Etiketten verwendet wurde mit der Behauptung, das Trinken dieses Kaffees verhelfe den Bäuerinnen und Bauern in Chiapas zu einem besseren Leben.
Ende Januar 2024 traf sich Elmar Morales mit Eduardo Camarena und weiteren Kaffeebäuerinnen und -bauern, um den lokalen Medien ihren Unmut kundzutun und einen Protestbrief an Nestlé zu verfassen: Der Preis von 26 mexikanischen Pesos, den sie aktuell für den Kaffee erhalten, sei völlig unzureichend. 35 Pesos pro Kilo (1.80 Franken, Stand Februar 24) sei das Mindeste, um die effektiven Produktionskosten decken zu können.
Der Preis liegt deutlich unter dem Vorjahrespreis – obwohl der Robusta-Preis an der global massgebenden Londoner Börse im selben Zeitraum um 50% auf den höchsten Wert seit 30 Jahren geklettert ist. Nestlé gibt an, sich bei der Preissetzung jeweils an der Entwicklung auf den internationalen Märkten zu orientieren. Tatsächlich wurde ein tiefer Preis in der Vergangenheit oft mit dem tiefen Börsenpreis begründet. Jetzt, wo dieser hoch ist, spielt er aber offenbar keine Rolle.
Der tiefe Preis ist für die Bauern umso problematischer, als sie zur Zeit mit stark gestiegenen Produktions- und Lebenshaltungskosten zu kämpfen haben. Wer es sich leisten kann, hält deshalb seinen Kaffee erst einmal zurück. Viele waren jedoch schon zu Beginn der Ernte gezwungen zu verkaufen, da sie das Geld zur Finanzierung der weiteren Ernte brauchten.
Um gut vom Kaffeeanbau leben zu können, wären um die 40 bis 50 Pesos pro Kilo nötig. Solche Preise zu verlangen, erscheint jedoch angesichts des aktuellen Preiskampfs völlig illusorisch. Eine Bäuerin formulierte es so: «Wir bitten doch nicht um die Perlen der heiligen Jungfrau! Alles, was wir verlangen, ist ein Preis, der uns in Würde leben lässt.» Nestlé erklärte sich jedoch als Reaktion auf den Protestbrief erst einmal für nicht zuständig. Die Produzent*innen sollten sich mit ihrem Anliegen doch an die lokalen Zwischenhandelsfirmen wenden.
So finden sich am Morgen des 5. Februar 25 Kaffeebäuerinnen und -bauern vor den Toren von Casemex ein, um dem Chef der Firma ihr Leid zu klagen. Elmar Morales ergreift das Wort. Mit erregter Stimme sagt er: «An der Nescafé-Schule haben sie uns gelehrt, die Produktion zu verdoppeln. Dann haben sie uns fallen gelassen. Sie haben uns Werte gelehrt, Prinzipien, Ethik. Wo ist die ganze Theorie geblieben?» Der Casemex-Chef hört den Bäuerinnen und Bauern etwas bleich, aber geduldig zu. Er bestätigt, was allen Anwesenden längst klar ist: dass er am Preis nichts ändern könne. Dieser werde von Nestlé vorgegeben. Er werde ihre Klagen aber dem Konzern weiterleiten und Bescheid geben, sobald er Antwort erhalte.
Ein paar Tage darauf sind wir mit dem Kleinbauern Octaviano Morales Salas im Taxi unterwegs nach Villaflor, rund eineinhalb Stunden entfernt von Tapachula. 320 Landbesitzer*innen wohnen im Bezirk, erzählt der 70-Jährige, die wie er zwischen einer halben und 15 ha Land bewirtschaften. Sie alle würden vom Robusta-Kaffee leben, den sie für Nestlé produzieren. «El café de los pobres», den Kaffee der Armen, nennt ihn Octaviano Morales Salas.
An diesem Tag findet in Villaflor eine «junta» statt – ein alle zwei bis drei Monate abgehaltenes Treffen, zu dem Vertreter*innen der umliegenden Dörfer zusammenkommen, um Anliegen zu besprechen und Beschlüsse zu fassen. Heute ist auch der tiefe Kaffeepreis traktandiert. Rund 40 Personen treffen nach und nach im Gemeindesaal ein. Octaviano Morales Salas ergreift das Wort und beklagt die Folgen von Nestlés Preispolitik.
«Weil es mit dem Kaffee nichts mehr zu verdienen gibt, gehen die Jungen alle in die USA. Allein aus unserer Gemeinde sind 180 ausgewandert. Wer soll noch unsere Böden bestellen? Uns steht das Wasser bis zum Hals. Nestlé füllt sich die Taschen und lässt uns in Armut zurück.»
Nach der Versammlung erklärt uns der Kleinbauer, dass es für die meisten Bäuerinnen und Bauern in der Gegend zu teuer sei, bei 4C mitzumachen. Dafür müssten sie Auflagen erfüllen, die einen grossen Mehraufwand und hohe Kosten verursachten. Theoretisch zahle Nestlé für 4C einen Aufpreis von 1.20 Pesos pro Kilo (6 Rappen). Doch auch dieser minime Aufschlag bleibt laut Morales Salas meist Theorie – in der Praxis würden die Einkäufer den Preis mittels Qualitäts-Beanstandungen wieder drücken, sodass sie oft beim «Coyote» noch den besseren Preis bekämen. Deshalb würden es die meisten vorziehen, diesem zu verkaufen. Die Mittelsmänner mit dem sprechenden Namen bezahlten zwar auch keine guten Preise, stellten aber zumindest keine Bedingungen an die Produktion. Viele Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sind auch auf sie angewiesen, weil sie ihnen – allerdings zu Wucherzinsen – Kredite vergeben. Denn das Geld aus dem Kaffeeverkauf reicht nicht bis zur nächsten Ernte, und die wenigsten von ihnen haben Möglichkeiten für Zusatzverdienste – so wird in den Monaten Juli und August auch das Essen knapp.
Interessant ist, dass offenbar auch der konventionell produzierte Kaffee über den Coyote letztlich bei EGOS, Casemex und Merino landet. Diese müssten eigentlich garantieren, dass der von ihnen gekaufte Kaffee 4C-zertifiziert ist. Sie bilden so genannte «4C-Einheiten», welche direkt Nestlé unterstehen und damit für die Umsetzung des Nachhaltigkeitsstandards auf den Farmen, von denen Nestlé Kaffee bezieht, zuständig sind.
Wir wollten die Zwischenhändler sowie 4C-Zertifizierungsbüros mit diesen Vorwürfen konfrontieren, unsere Anfragen blieben jedoch trotz mehrmaligem Nachhaken unbeantwortet. Auch Nestlé hat unsere Fragen zu diesem Thema nicht beantwortet.
Die Kaffeeproduzentinnen im Soconusco kämpfen aktuell mit vielen Problemen: Pilz- und Schädlingsplagen reduzieren immer wieder ihre Ernte, dazu spüren sie zunehmend die Folgen des Klimawandels. Zu wenig Niederschläge haben 2023 nach Schätzungen zu einem Ernterückgang von 10 bis 15% geführt. Hinzu kommt ein akuter Arbeitskräftemangel für die Kaffeeernte und die Plantagenpflege. Die Arbeiterinnen kommen traditionell aus dem nahen Guatemala, wo noch grössere Armut herrscht als in Chiapas. Sie verdienen umgerechnet rund 10 Franken am Tag – ein Lohn, den die Kaffeebäuerinnen und -bauern kaum aufbringen können und der den Arbeiterinnen doch fast nicht zum Leben reicht. So kostet alleine das Grundnahrungsmittel Tortilla in Chiapas aktuell 1.20 Franken pro Kilo. Zurzeit ist der Peso so schwach, dass es sich für die Guatemaltekinnen kaum mehr lohnt, zum Arbeiten nach Chiapas zu kommen. Viele ziehen es ohnehin vor, ihr Glück im Norden des Landes oder in den USA zu suchen.
Schuften im Tropenparadies
Wir fahren mit Marbella Salas und ihrem Mann Luis Figueroa zu ihrer «Ranchito», wie sie ihre 5 ha grosse Kaffeefarm nennen. Die Kleinbäuerin zeigt auf eine Reihe von Pflanzen, die alle kaum einen Meter hoch sind: «Das sind die Klone von Nestlé». Sie ersetzt immer mehr ihrer traditionellen Pflanzen durch die potenziell ertragsreicheren Züchtungen. Viele Kaffeebäuerinnen und -bauern der Region bevorzugten jedoch die traditionellen Pflanzen, erklärt sie. Denn die Nestlé-Setzlinge trügen nur wenig Früchte, wenn sie nicht gedüngt werden – den Dünger könnten sich aber viele nicht leisten. Bei ihnen ginge dies nur, weil ihr Mann in den Sommermonaten zusätzlich auf dem Bau arbeite. Die Klone würden auch schnell eingehen, wenn zu wenig Regen falle; und man müsse sie alle acht bis zehn Jahre ersetzen, während die traditionellen Pflanzen 50 Jahre alt werden könnten.
Auf dem Strässchen zu ihrer Farm treffen wir einen Mann um die 60, gefolgt von einem deutlich jüngeren; beide tragen Macheten. Der ältere Mann ist Kleinbauer und produziert auf 2.5 ha Arabica und Robusta für Nestlé. Während er mit seinen Nachbarn Marbella Salas und Luis Figueroa plaudert, sprechen wir mit dem jungen Mann, seinem Arbeiter. Wie alle Arbeiter*innen, die wir antreffen, ist er – ganz im Gegensatz zu den Bäuerinnen und Bauern – sehr zurückhaltend. Trotzdem sagt er schnell: «Ich träume davon, noch dieses Jahr in die USA auswandern.» Er hoffe auf ein Arbeitsvisum, denn ihm fehle das Geld, um die Reise zu bezahlen. Vor fünf Jahren habe er auf einer grösseren Finca gearbeitet, doch da habe er es nur zwei Wochen ausgehalten. «Auf Grossfarmen muss man um 4 Uhr aufstehen», erzählt er, «und zu essen gibt es meist nur Wasser, Bohnen und Tortillas.» Wolle man auf einer Matratze und mit einer Decke schlafen, müsse man die selber mitbringen.
Das Elend der Arbeiter*innen im Soconusco dokumentierte schon der mexikanisch-US-amerikanische Film «Cosecha de Miseria» vor sieben Jahren. Bei einem Nachbarn von Eduardo Camarena, 4C-Bauer für Nescafé wie er, deckte das Reporterteam menschenunwürdige Zustände in den Unterkünften auf. Auf der Ruta del Café und den Plantagen trafen sie zudem überall Kinder aus Guatemala an, die Kaffee pflückten und bis zu 50 kg schwere Kaffeesäcke schleppten.
Harte Arbeit zum Hungerlohn: Der junge Mann will nur noch weg. © Damián Sánchez
Hat sich die Situation seither verbessert? «Das lässt sich nicht sagen», erklärt Julio García, Berater für die Internationale Arbeitsorganisation ILO in Chiapas und Autor einer Studie zum Thema. Es gebe dazu schlicht keine Zahlen. Szenen wie im Film treffen wir bei unserem Besuch zwar keine an. Der Experte bestätigt aber unsere Vermutung, dass dies schlicht daran liege, dass die Erntearbeiter*innen aus Guatemala in dieser Saison ausgeblieben sind – sie bringen traditionell ihre Kinder mit zur Arbeit. Die Risikofaktoren für Kinderarbeit im Kaffeesektor in Chiapas, so Julio García, seien aber mit Sicherheit nicht kleiner geworden.
Das grösste Risiko stellt nach wie vor das sehr geringe Einkommen der Bäuerinnen und Bauern dar, bedingt in erster Linie durch die tiefen Kaffeepreise. Das hat zur Folge, dass insbesondere bei Kleinbäuerinnen und -Bauern in Chiapas wie weltweit auch Kinderarbeit innerhalb der Familien weit verbreitet ist. Viele geraten in eine Armutsspirale mit verheerenden Folgen, von unzureichender Gesundheitsversorgung über fehlende Bildungschancen bis zu saisonaler Ernährungsunsicherheit.
Vera Espindola ist Entwicklungsökonomin, sie arbeitete als Kaffeeexpertin beim mexikanischen Landwirtschaftsministerium und ist heute in einem Unternehmen für Spezialitätenkaffee tätig. «Die Preise, welche die Kaffeeproduzent*innen erhalten – für Arabica wie für Robusta – decken meist kaum die Produktionskosten», sagt sie. Meist bedeuten sie ein Leben in Armut.
Hauptgrund für die tiefen Preise sind aus Sicht von Espindola die «fundamentalen Informations- und Machtasymmetrien zwischen Käufern und Bauern». Dieses Ungleichgewicht habe sich in den letzten 15 Jahren noch verschärft. Dies kontrastiert mit der Tatsache, dass die Kaffeekonzerne in diesem Zeitraum unzählige auf Freiwilligkeit basierende Nachhaltigkeitsprogramme und Brancheninitiativen lanciert haben, welche die Lebensbedingungen der Produzentinnen hätten verbessern sollen. Weiterhin leben Schätzungen zufolge rund 5.5 Millionen – das heisst knapp die Hälfte – der Kaffeebäuerinnen und -bauern weltweit in Armut, und die grosse Mehrheit der Kaffeeproduzentinnen ist weit davon entfernt, ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen. Dies, obwohl das Recht auf eine solche Entlöhnung, welche die wichtigsten Grundbedürfnisse deckt, ein im UNO-Sozialpakt verankertes Menschenrecht darstellt. Während die Kaffeekonzerne in den letzten Jahren immer mehr Profite erwirtschafteten, ist der Anteil der Wertschöpfung, der an die Produzentinnen geht, sogar weiter gesunken. Die Arbeiterinnen kommen in dieser Rechnung meist gar nicht erst vor.
Für Ric Rhinehart, Kaffeeexperte und ehemaliger CEO der Specialty Coffee Association, dem globalen Dachverband für Spezialitätenkaffee, ist keine Überraschung, dass diese Nachhaltigkeitsbemühungen nicht gefruchtet haben: «Die Versprechen sind komplett irreführend, denn die Konzerne benützen ihre eigene Nachhaltigkeitslogik – und die ist darauf ausgerichtet, maximalen Mehrwert aus den Bauern herauszupressen.»
Die Verhandlungen mit Nestlé – eine Farce
«Precio justo, precio justo!», «faire Preise, faire Preise!», hallt es aus der Gruppe von rund 200 Menschen, die sich am frühen Morgen des 15. Februar auf der Ruta del Café versammelt haben. Nachdem sie vergeblich auf eine Reaktion von Nestlé gewartet haben, verleihen sie ihrer Forderung mit einer Strassenblockade Nachdruck. Den ganzen Vormittag über versperren sie die Strasse am Stadtrand von Tapachula, dort, wo sich die Zwischenhandelsfirmen befinden. Vor den Kameras der lokalen Medien verbrennen sie Nescafé-Plan-Kaffeesäcke und Nestlé-Robusta-Setzlinge.
Der Druck wirkt: Ein lokaler Regierungsvertreter trifft ein und verspricht den Protestierenden ein Gespräch mit Nestlé in Tuxtla Gutierrez, der Hauptstadt von Chiapas. Beim Treffen zehn Tage später erfahren die aus Tapachula angereisten Kaffeeproduzent*innen jedoch, dass niemand aus der Nestlé-Einkaufsabteilung erschienen ist und die Anwesenden keine Befugnis hätten, über den Preis zu reden. In drei Tagen würden sie aber eine Antwort auf ihre Preisforderung erhalten. Diese kommt dann auch pünktlich. Sie lautet: Nein.
«Una burla de Nestlé» sei das Ganze gewesen, sagt Kaffeebauer Julio Castillo, der am Treffen dabei war, eine Farce. Die ganze Erntesaison, von Oktober bis Februar, haben sie für einen fairen Preis gekämpft. Wie schon letztes Jahr wurde er zwar schrittchenweise erhöht – aber nicht auf den geforderten Mindestpreis. Inflationsbereinigt liegt der Preis sogar tiefer als letztes Jahr. Doch die Bäuerinnen und Bauern sind nun gezwungen zu verkaufen: Langsam, aber sicher verdirbt der Kaffee und sie drohen, alles zu verlieren. Dazu müssen viele auch dringend Schulden begleichen.
Den Bauern ist erst einmal die Luft ausgegangen. Julio Castillo erklärt: «Wir sind Kaffeebauern, wir wollen und können unsere Zeit nicht damit verbringen, uns mit Nestlé zu streiten.» Sie würden ja nur verlangen, dass der Nescafé Plan zu dem wird, was er eigentlich sein sollte: Ein Programm, in dem Kaffeeproduzenten und das Unternehmen zusammenarbeiten, zum Nutzen aller.
Die Monate bis zur nächsten Ernte wollen sie nun nutzen, sagt Castillo, um sich besser zu organisieren, damit sich das diesjährige Trauerspiel um den Preis möglichst nicht wiederholt. Doch Eduardo Camarena sagt, er sei wenig optimistisch. Er befürchtet, dass Nestlé seine aggressive Billig-Einkaufspolitik noch verschärfen wird, dazu drohe die nächste Ernte wegen der aktuellen Trockenheit noch schlechter auszufallen. Aufgeben ist für ihn, wie für die meisten Kaffeeproduzent*innen des Soconusco, dennoch keine Option. «Ich liebe den Kaffee», so seine Begründung kurz und knapp. Zudem könnten sich die meisten hier eine Umstellung auf ein anderes Produkt gar nicht leisten.
Wie war das nochmal im Nescafé-Werbeclip? Eduardo Camarena hat seinem Grossvater versprochen, den Hof weiterzuführen. Damit dies nicht nur im Film, sondern auch im richtigen Leben möglich wird, bräuchte er aber weder Kurse in Farm-Management noch hochgezüchtete Setzlinge, sondern eigentlich nur eines: Dass ihm der Lebensmittelriese aus der Schweiz einen Preis für den Kaffee zahlt, der zum Leben reicht.